Psst... ich wurde zur Superheldin befördert!
- henrikepost
- 5. Jan. 2022
- 8 Min. Lesezeit
In Pandemiezeiten vollbringen Mütter Außergewöhnliches.

Wir kennen das aus der Wirtschaft - wenn ein Mitarbeiter im Großkonzern ausgedient hat, dann kann man ihn nicht einfach entlassen - nicht in Deutschland. Hierzulande wird man "wegbefördert". Ursula von der Leyen: ungeeignet als Verteidigungsministerin, dann ab mit ihr in die Europäische Kommission. Melanie Huml: von der bayerischen Gesundheitsministerin zur Staatsministerin für Europaangelegenheiten befördert. Sehr diplomatisch.
Leider durfte ich diese Erfahrung auch machen. Im Februar 2020 war ich noch ganz gewöhnlich Mutter und Lehrerin. Kurze Zeit später übertrug man mir allerdings die zusätzlich Verantwortung der Grundschullehrerin für eine Tochter, der frühkindlichen Bildungsförderung für die andere Tochter und die Haushaltsführung für die ganze Familie. Ohne Weiterbildung oder Aufbauseminar. Nach einer Weile hatte ich es verstanden: ich wurde zur Superheldin befördert!
Ja, ich weiß schon "dann müssen sich die Eltern halt mal selbst um ihre Kinder kümmern...". Toller Rat! Wenn ich noch ein Mal einen solchen Kommentar in der Zeitung lese, dann mutiere ich vielleicht noch zum Bösewicht. Falls es den klugen Menschen der Kommentarfunktionen noch nicht aufgefallen ist, tun wir Eltern das. Die Umstrukturierung des Familienunternehmens kam nur etwas unerwartet. Mir ist bewusst, dass ich meine Mutterrolle 24/7 habe. Seit dem Schul-/Kindergarteneintritt war meine tatsächliche Anwesenheit und vollständige Aufmerksamkeit jedoch genau getaktet: In der Nacht, zwei Stunden nach dem Aufwachen und dann wieder ab 14 Uhr bis zum Betthupferl. Dementsprechend waren auch die anderen familiären Aufgaben und elterlichen Arbeitsstunden an diese Tatsache angepasst. Und da sind mein Mann und ich nicht die einzigen. Laut DeStatis (2020) werden 92,5% der 3-6 Jährigen in Deutschland in einer Kita betreut. Ab dem siebten Lebensjahr greift dann die Schulpflicht, die besagt, dass das Kind in einer staatlich genehmigten Institution unterrichtet werden MUSS. Wir haben uns dieses System auch nicht ausgedacht, sondern der Staat wollte das so und Familien wurden schon allein durch die gesetzlich geregelte Elternzeit von drei Jahren in diese Richtung sozialisiert. Wenn man an einem gewöhnlichen Wochentag um 10 Uhr auf dem heimischen Spielplatz auf Spielpartner für die Kinder hofft, dann ist die Auswahl sehr begrenzt.
Lockdown - Schule und Kindergarten geschlossen
Wenn es dann von heute auf morgen heißt "Schule und Kindergarten geschlossen", dann wird zwar der Spielplatz voll, aber die Aufsichtspflicht schwierig, denn eigentlich ist man ja gerade in der Arbeit oder im Keller bei der Wäsche. Diese Vierfachrolle kann man eine gewisse Zeit stemmen, doch irgendwann ist der Akku leer. Total leer.
Ich meine vielleicht ist das ja wie mit den FFPs-Masken - das notwendige Utensil für das Überleben des Familiendschungels wird erst neun Monate später geliefert. Vielleicht kommt auch morgen das Paket vom Staat, in dem sich die Zeitumkehrerkette von Hermine Granger in Harry Potter befindet, mit der ich jeden Tag vier mal durchleben kann. Oder Mütter bekommen demnächst eine Einladung zur Online-Weiterbildung zur Grundschullehrerin und Kindergärtnerin - das wäre praktisch, denn dann wäre dieser Fachkräftemangel nach der Pandemie gleich behoben. Vielleicht kommt da noch die rettende Hand der Regierung.... ich glaube nicht mehr daran.
Neun Monate später sind wir nämlich wieder an diesem Punkt. Superheldin-Alarm.... Die Sirene leuchtet - bitte macht euch bereit alles alleine zu machen. Meine Familie und ich haben daraus gelernt, denn meinen Lehrerberuf habe ich an den Nagel gehangen und mir etwas flexibleres gesucht. Aber was hat das Schulsystem daraus gelernt? Was hat der Staat für die Betreuung der 14 Mio. Kinder in Deutschland getan? Ich weiß es nicht... Tatsache ist, das Ministeriumskind ist in den Brunnen gefallen und nunmehr in Welle drei schwindet auch die Hoffnung auf kreative, flexible Lösungen seitens der Bildungsmacher, zumindest für diese Pandemie, vielleicht ja bei der nächsten.
Es liegt also an uns, an uns Familien ganz allein, einen Weg zu finden nicht durchzudrehen, keinen zurückzulassen. Doch wie schafft man das? Warum regt uns das alles überhaupt so auf? Wie können wir das Beste daraus machen?

Es geht darum, dass ich mich als Mutter in eine Rolle behoben fühle, die ich scheinbar nur als Superheld oder mit irgendwelchen Superkräften bewältigen kann. Die Frage ist, was kann man aus solch einer Situation gewinnen bzw. was steckt aus theoretisch-wissenschaftlicher Sicht dahinter?
Was uns die Superheldennummer für Chancen gibt!
Aus pädagogisch-psychologischer Sicht gilt es vorerst festzustellen wo der Schuh für einen selbst am meisten drückt. Die Situation quält einen sicher nicht immer gleich - Familie ist nicht gleich Familie. Nehmen wir zum Beispiel Familie AB, angestellte Eltern ohne Führungsverantwortung mit einem zehnjährigen Mädchen mit normaler schulischer Leistung. Für die Eltern AB ist es womöglich eine Abwechslung gesetzlich geregelt durch zusätzliche Urlaubstage Zeit für die Tochter und die Familie zu haben. Vielleicht ist es etwas was sich Mutter AB schon sehr lange gewünscht hat. In diesem Fall sollte Mutter AB ihre eigene berufliche Situation überdenken, sich fragen ob es Zeit für einen Wechsel oder eine Veränderung ist. In diesem Fall hat die Pandemie das familiäre System verändert, eine neue Perspektive gegeben, aber nicht überlastet.
Ganz anders ist es für die Familie XY, zu der ich mich und die meisten meiner Bekannten zähle: mehr als ein Kind unterschiedlichen Alters und berufliche Verantwortung, welche Urlaubstage schwer ermöglicht. Für diese Familien kam Corona als eine unerwartete Belastungskomponente, schlimmer als jede übliche Kinderkrankheit, welche das gesamte familiäre System für Monate auf den Kopf stellt, eine Belastung, die einem schlicht Superkräfte abverlangt. Der Grund für diese Belastung ist eine Überforderung, die verschiedene Ursachen hat: Zeitdefizit, Fremdbestimmung, mangelnde Planungssicherheit, Geschwisterrivalitäten, Haushaltsfrust oder einfach große Unlust (fehlende Motivation) den ganzen Tag in kindliche Rollenspiele verwickelt zu sein. Theoretisch betrachtet resultieren die meisten dieser Ursachen in emotionalen Herausforderungen: je weniger Zeit ich habe, um die von Außen gestellte Anforderungen zu bewältigen, umso größer ist der Stress; je mehr mein Alltag durch andere bestimmt wird, umso weniger Freude habe ich daran; je weniger Planungssicherheit ist habe, umso größer die Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit; je weniger Zeit die Eltern haben, desto größer wird die Eifersucht der Kinder untereinander; je weniger der Alltag die eigenen Bedürfnisse befriedigt und je weniger Abwechslung er bietet, umso weniger Enthusiasmus haben Eltern für die Aktivitäten der Kinder, was diese wiederum frustriert und verärgert. Und schlussendlich ist es so, je anhaltender die negativen Emotionen, wie Ärger, Frustration oder Hoffnungslosigkeit sind, umso intensiver und grundloser werden auch die emotionalen Ausbrüche.
Wohin mit den Emotionen?
Es geht also darum die vielen negativen Emotionen auszuhalten bzw. sich emotional regulieren zu können. Kurz um: Was machen wir mit diesen unangenehmen Gefühlen?
In der Psychologie unterscheidet man die Möglichkeiten der Emotionsregulation, also wie man mit seinen Emotionen umgeht, nach zwei Komponenten:
1. Wie wichtig ist mir diese Situation oder deren Ausgang? Die Relevanz.
2. Wie viel viel Einfluss habe ich auf die Situation? Die Kontrolle.
Situationen, welche einem sehr wichtig sind, erleben wir emotional intensiver als jene, welche uns weniger wichtig sind. Wenn die Dreijährige einen Videocall mit dem Chef sprengt, weil sie JETZT Hunger hat und nicht in zehn Minuten, dann ist das emotional aufreibender als wenn sie das Telefonat mit der Freundin unterbricht. Wie wir dann die intensive Emotion regulieren, hängt von der Kontrolle über die Situation ab. Wenn ich in einem Gruppencall mit dem Chef auf Mute schalten kann und in Ruhe den Ehepartner rufen, um die Dreijährige zu versorgen, dann ist die Emotion schnell abgemildert. Wenn man hingegen im Eskalationsmeeting den Chef bitten muss, dass man in ein paar Minuten zurückruft und die Dreijährige dann wegrennt und weder Brot noch Apfel will, sondern Schokolade und anfängt laut zu schreien, dann muss man sich schon gut unter Kontrolle haben, um sich selbst nicht zu vergessen.
Das Bewusstmachen über diese zwei Komponenten kann einem schon helfen. So platt es klingt, aber das Wissen darum schützen vor Überreaktion in banalen Situationen, üben uns in der Kommunikation mit dem Gegenüber und helfen bei der Planung der wirklich wichtigen Situationen. Gerade da sich in Pandemie-Homeschooling-Lockdown-Zeiten diese emotionalen Situationen häufen, ist es nötig zu unterscheiden, wann man die Kinder um Verständnis bittet oder selbst nachsichtig ist. Kinder können nicht immer geduldig warten, aber manchmal. Mit der richtigen Planung können selbst kleine Kinder unter Umständen (ausgeschlafen, gefüttert und gesund) sehr verständnisvoll sein. Oder man kann in den wenigen wirklich relevanten emotional intensiven Emotionen gleich um Hilfe bitten.
Es geht also darum die emotionalen Situationen a) schon vorab entsprechend als wichtig/ unwichtig zu bewerten (ich rufe meine Freundin an vs. ich muss 15 Minuten ungestört mit dem Chef telefonieren ), bestmöglich anzupassen (ich lege auf, wenn es nicht mehr geht vs. ich mache ein Hörspiel an und warte bis das Kind vertieft ist), die Aufmerksamkeit zu lenken (erst telefoniere ich und dann spiele ich nur mit dir) oder für sich neu zu bewerten (wenn mein Chef mal mein Kind hört, macht mich das auch nur menschlich, also kein Stress).
Diese Strategien helfen allerdings nur für antizipierbare emotionale Situationen, also jene, die ich schon vorher erwarte, dass sie mich bewegen. Wenn ich unerwartet in eine intensive emotionale Situation gerate, dann ist die Emotion - der furchtbare Ärger, die Überraschung oder der Frust - einfach da. Dann habe ich nur die Möglichkeit sie zu akzeptieren und auszuhalten ("Ich bin jetzt wirklich sauer, gib mir eine Minute") oder abzumildern (tief durchatmen, gut zureden). Das ist manchmal eine echte Herausforderung, aber gerade diese Momente helfen einem, es das nächste Mal anders zu machen. Wir lernen aus ihnen.
Es ist ein Prozess
Diese wichtigen emotionalen Kompetenzen, wie das Erkennen und Regulieren von Emotionen sind aber keineswegs angeboren. Gerne sagen wir, wenn das Kind gerade grundlos explodiert und das Essen durch die Gegend wirft "Das hat sie von dir", aber ganz so einfach ist das nicht. Vielmehr erlernt der Mensch diese emotionale Kompetenzen erst. In den ersten Lebensjahren brauchen die Kinder uns, um einzuschätzen wann welche Emotion angebracht ist. Wenn das Kind hinfällt und nicht als erstes weint, sondern zu uns schaut, dann will es wissen wie schlimm das jetzt war. Wenn wir dann das Gesicht verziehen, dann geht es los. Wenn wir neutral reagieren, dann ist es oft nicht so schlimm. Genauso können wir unserem Kinder 100 mal sagen, dass es sich jetzt mal beruhigen soll. Wenn es nicht weiß wie es geht, dann ist das Wort nur eine leere Hülle. Wie gut unsere Kinder mit einer Situation umgehen hat also einerseits etwas mit ihrem Alter zu tun, andererseits mit der Art wie wir es ihnen beigebracht haben.
Das heißt...
1. Man sollte seine Erwartungen an die Kinder ihrem Alter entsprechend anpassen. Je älter ein Kind, desto besser kann es sich selbst beschäftigen, Erklärungen verstehen, warten, sich beruhigen, Rücksicht nehmen usw. All die Dinge, die wir zur Zeit so sehr von ihnen brauchen.
2. Wir können den Kindern beibringen, wie sie die eigenen Emotionen und die anderer erkennen und deuten und wie sie sinnvoll damit umgehen. Wir sollten nie davon ausgehen, dass ein Kind etwas schon kennt, kann und versteht. Im Zweifel fragen wir sie, erklären es und zeigen es ihnen. Ich erinnere meine Kinder (und mich selbst daran) tief durchzuatmen, wenn der Ärger hochkommt. Ich atme sogar mit, wie man es aus den Hollywood-Geburten kennt - nur, dass wir nicht hecheln.
3. Auch wir Erwachsenen haben selbst nie ausgelernt. Wenn es uns maßlos aufreget wenn die Kinder uns stören, nicht respektieren oder auf die Palme bringen, dann können wir vielleicht selbst noch etwas an unseren emotionalen Reaktionen verändern. Vielleicht sind ja auch wir dauer-gestresst und lassen es an den Kindern aus. Was hier hilft ist Achtsamkeit. Ich habe bei mir selbst beobachtet, dass ich schneller grantig werde, wenn ich gerade im Handy lese, als wenn ich die Küche aufräume - beim Lesen reagiere ich erst beim dritten "Mama, guck mal" und werde schon beim vierten sauer. Wenn ich stattdessen sage: "Ja, was ist denn? Kann das Warten? Ich lese gerade...ich komme gleich", dann habe ich vielleicht ein paar Minuten Ruhe gewonnen und einen mini Streit ausgelassen. Der Ton macht die Musik und der Takt das Lied. Wenn wir den ganzen Tag durchgetaktet sind, dann geht das natürlich nicht an den Kindern vorüber.
Eine wichtige Superhelden-Fähigkeit, die man tatsächlich erlernen kann, ist also die emotionale Kompetenz: Nerven aus Stahl, eine Engelsgeduld, die Ruhe selbst... all das sind Dinge, die von Innen kommen. Wenn wir also eine Herausforderung wie die Pandemie aushalten müssen, dann lohnt es sich mit dieser sonst so vernachlässigten Kompetenz zu beschäftigen, sie zu lernen und uns zu nutze zu machen. Achtsamkeit, Autogenes Training, Meditation, all diese Mode-Begriffe zielen auf etwas ähnliches ab: sich selbst mit seinen Emotionen wahrnehmen, regulieren, auf andere reagieren können. Also nicht durchdrehen, sondern erstmal tief durchatmen!
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