Neue Eltern und Selbstbestimmung
- henrikepost
- 5. Jan. 2022
- 6 Min. Lesezeit
Ungefähr vor sieben Jahren passierte es. Ich brachte meinen ersten Sohn auf die Welt und mein Mann und ich wurden plötzlich Eltern. Natürlich hatten wir uns schon im Vorfeld viele Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde ein Baby zu bekommen und Vater und Mutter zu sein. Aber um ehrlich zu sein, hatten wir keine Ahnung wie es wirklich ist und es kam vieles anders, als wir es uns ausgemalt hatten.
Herausforderungen in der Elternschaft
Die größte Veränderung, die das Elternsein für mich als „Planerin und Perfektionistin“ mit sich brachte, war der Verlust der Selbstbestimmung (selbst entscheiden zu können, wann und wie man etwas macht) über das eigene Leben – ein Leben wie ich es gewohnt war: Ständig machte ich mir konkrete Pläne, befolgte sie und kam selten von meinem vorgegebenem Weg ab. So meisterte ich mein Studium, meine Arbeit und meinen Haushalt. Auf diese Weise funktionierte alles prima. Und dann kam mein Sohn auf die Welt, wir wurden eine Familie und meine bisherige Planung wurde komplett über den Haufen geworfen.
Aber eigentlich wurde mein Hang zur Kontrolle schon vor der Geburt durcheinandergebracht. Dies geschah bereits beim Kinderwunsch. Es dauerte ein bisschen länger als erwartet bis ich endlich schwanger wurde und auch bei der Schwangerschaft lief alles nicht so, wie ich mir es erhofft hatte: Zuerst hatte ich viel zu frühe Vorwehen und dann kam unser Baby doch erst einige Tage nach dem Geburtstermin zur Welt. Während der Zeit in meinem Bauch, entwickelte sich mein Sohn zu einem Menschen, der schon von Anfang an seinen eigenen Zeitplan mitbrachte.
Wie fühlt es sich an ein Baby zu bekommen?
Und dann war er da – mein Sohn. Da lag dieser kleine Mensch in meinen Armen und es stellte sich ein unbeschreibbares Gefühl bei mir ein. Dies war geprägt von Vertrautheit, weil ich ihn ja schon seit neun Monaten kannte, aus der Zeit als er in mir drin gewachsen war. Eigentlich war er ich – ein Mini-Me eben. Aber jetzt war dieses Quasi-Ich außerhalb meines Körpers und noch so viel mehr: Es gab unendlich viel, an diesem kleinen Menschen zu entdecken! Von der ersten Sekunde an wollte ich nicht mehr ohne ihn sein, aber er musste erst zu meinem Sohn werden. Ich wollte alles an ihm kennenlernen, gemeinsam mit ihm die Welt entdecken und ihn sein Leben lang begleiten.

Neben diesem unendlichen Glücksgefühl, unbändiger Vorfreude und Neugierde stellte sich allerdings auch eine Angst vor dem Ungewissem - dem Neuen - ein. Der kleine Mund meines Sohnes signalisierte mir mit einem leisen Schmatzen, dass er saugen und Milch haben wollte und sein Körper schmiegte sich an mich, weil er nicht abgelegt werden wollte. Doch leider gab es keine Gebrauchsanweisung bei der Geburt und ich musste erst lernen, die Signale meines Kindes zu deuten. Wir beide mussten erst erfahren wie das mit dem Stillen, dem Einschlafen und dem Ablegen so geht. Gott sei Dank halfen mir die Hormone dabei den Schlafmangel, die Unannehmlichkeiten des Wochenbettes und die wunden Brustwarzen wenigsten ein bisschen zu verdrängen.
Das Baby bestimmt jetzt den Alltag
So stellte ich mich immer mehr auf meinen Sohn und seine Bedürfnisse ein. Allerdings rückten dadurch meine Tagespläne in den Hintergrund. Denn mein Kind verstand die Erwachsenen-Welt noch nicht. Es verspürte nur das Bedürfnis nach Hunger, Zuwendung, Ruhe und Miteinander… Babys in diesem Alter ist es noch nicht möglich Bedürfnisse aufzuschieben. Das entwickelt sich erst mit der Zeit. So wollte mein Sohn tagsüber viel schlafen und nachts, wenn ich total müde und ausgepowert war, wollte er alle zwei Stunden gestillt werden. Hatte ich gerade gekocht und das Essen stand auf dem Tisch, dann wachte das Baby auf und wollte herumgetragen werden, bis meine Mahlzeit wieder kalt geworden war. Wollte ich schnell unter die Dusche springen, fing es an zu schreien. So gab es unzählige Beispiele dafür, wie die Selbstbestimmung meines Lebens immer weniger wurde.
Mit einem kleinen Baby funktioniert der Alltag besser, wenn wir Eltern uns zu großen Teilen auf das Kind ausrichten und nicht versuchen unsere früheren Zeitpläne durchzusetzen. Mein Mann und ich mussten dies auf schmerzliche Weise erfahren, als wir unsere erste Bergtour als Familie planten. Nach dem das uns endlos vorkommende Wochenbett überstanden war, wollten wir endlich mal wieder raus in die Natur. Wir planten früh auf dem Berg sein, um das schöne Wetter an diesem Tag zu genießen. Allerdings machte uns da unser Kleiner gehörig einen Strich durch die Rechnung. Nach dem Aufstehen waren wir natürlich erstmal stundenlang mit Stillen, Wickeln, Anziehen und Sachen zusammenpacken… beschäftigt. Als wir dann allesamt (mit allen Babyutensilien bewaffnet) im Auto saßen, hatte mein Sohn erneut eine volle Windel und schon wieder Hunger. Also schluckten wir unsere Enttäuschung herunter, packten alles wieder aus und waren den Rest des Tages - wie auch in den letzten Wochen zuvor - mit Nahrungsaufnahme, Körperhygiene und Schlafeinheitensuche (für jeden von uns) beschäftigt. Frustration machte sich bei uns breit.
Warum empfinden wir Eltern unsere neue Aufgabe - uns um die Grundbedürfnisse unseres Kindes zu kümmern - manchmal auch als unangenehmen Verlust der Selbstbestimmung über unser Leben? Welche psychologischen Theorien stecken dahinter und wie können wir es schaffen diesen Verlust nicht mehr als so unangenehm zu empfinden? Jetzt maldurchdacht:

Autonomie ist wichtig
Nach den Psychologen Deci und Ryan hängt unsere Selbstbestimmung (ich als Person bestimme über mein Handeln) davon ab, wie frei wir uns in unserem Handeln fühlen (Autonomie). Nehmen Autonomie und der Grad der Selbstbestimmung des eigenen Lebens ab, hat das einen negativen Einfluss auf unsere Motivation und kann zur Frustration führen. Wendet man diese psychologische Theorie auf eine neue Elternschaft an, so kann man schlussfolgern, dass frischgebackene Eltern, die das Gefühl haben, ihr Leben drehe sich nur noch um das Baby, sich fremdgesteuert fühlen. Sie glauben, dass ihr Kind sie manchmal einschränkt und oft fehlt ihnen die Selbstbestimmung ihres alten Lebens: Wie schön wäre es mal wieder eine Nacht durchzuschlafen, am nächsten Morgen ausgeschlafen und in Ruhe einen Kaffee zu trinken und entspannt die Zeitung zu lesen!
Je autonomer sich Eltern fühlen und sie glauben, dass sie ihr Leben selbst regulieren können, desto freiwilliger meistern sie ihre neuen Aufgaben und fühlen sie mit ihrer Vater- oder Mutterrolle wohler. Dabei ist ausschlaggebend inwieweit sie sich kompetent fühlen (z.B. "ich weiß was zu tun ist, wenn mein Baby schreit"), sie neue Fähigkeiten und Techniken (z.B. "jetzt wissen wir wie das Stillen geht") dazu gewinnen und sie ihre Probleme kreativ lösen können (z.B. Staubsauger einschalten, um das Baby zu beruhigen und somit bekannte Mutterbauchgeräusche zu imitieren). Hierbei hat es mir persönlich sehr geholfen mit anderen Müttern über ihre Erfahrungen mit ihren neuen Babys zu sprechen und mir neue Anregungen zu holen (z.B. in Mutter-Kind-Kursen).
Bedeutet das also, dass wir Eltern die Selbstbestimmung über unser Leben verlieren? Nein. Es bedeutet vielmehr, dass wir im Laufe der Zeit lernen aus unserem bisher bekannten System "ich - mein Leben" oder "wir zwei - das Paarleben", ein neues System zu erschaffen: das "wir drei - Familienleben".

In dieses System nehmen wir einen kleinen Menschen mit eigenen Bedürfnissen, Vorstellungen und Empfindungen auf. Dieses Zusammenwachsen zu einer Familie befriedigt unser Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit (Teil einer Gruppe zu sein und sich nicht allein zu fühlen), was sich wiederum positiv auf unsere Motivation Eltern zu sein und unser Wohlergehen auswirkt. Besonders in der ersten Zeit gibt das Baby den Rhythmus und den Alltagsplan vor und langsam mit der Zeit pendelt sich dann ein gemeinsamer Rhythmus als Familie ein.
Neue Art von Selbstbestimmung als Eltern finden!
Wir verlieren als Eltern also eine bestimmte Art von Selbstbestimmung: Wir können nicht mehr unser bisher gelebtes eigenständigen Leben führen ohne auf andere achten zu müssen. Klar, kann das manchmal zu Frust führen - das ist ganz normal! Mit der Zeit aber können wir versuchen diesen Verlust von Autonomie zu akzeptieren und uns neu auszurichten. Denn wir gewinnen auch eine neue Art von Kontrolle hinzu: „Kontrolle im Elternleben“ bedeutet, einen groben Plan zu haben, wohin es geht. Als Eltern geben wir unserem Nachwuchs Werte und Leitbilder mit auf den Weg, die uns wichtig sind. Vielleicht werden unsere Kinder einige dieser Werte ebenfalls annehmen oder vertreten- vielleicht auch nicht. "Kontrolle im Elternleben" bedeutet auch vorausschauend zu denken, eventuell auftretende Probleme mit einzuplanen und sich freudig überraschen zu lassen, wenn diese dann doch nicht eintreten. So klappte ein paar Wochen später (als unser Baby größer und mein Mann und ich routinierter waren) unser erster gemeinsamer Bergausflug als Familie doch noch!
Aufteilen und Unterstützung holen!
Der Rollenwechsel vom Individuum/Paar zur Elternschaft ist auch ein Übergang in eine neue Lebensphase. Solche Übergange sind oft schwierig zu meistern und stellen uns vor ungewohnte Herausforderungen. Daher empfinden wir Eltern den Autonomie- und Kontrollverlust besonders in der Anfangszeit mit einem Neugeboren als unangenehm. Umso wichtiger ist es, dass sich Eltern in solchen Zeiten gegenseitig helfen: Frischgebackene Eltern wuseln sehr gerne zusammen um ihr Baby herum. Das führt aber meist nur dazu, dass beide erschöpft sind. Besser ist es sich abzuwechseln und sich gegenseitig zu entlasten. Abgesprochene Freiräume, in denen man den Lieblingssport oder mal ein Nickerchen machen kann, erhöhen den wahrgenommen Grad der Selbstbestimmung des jeweiligen Elternteils und somit auch das Wohlergehen der ganzen Familie. Zudem sollte Unterstützung von anderen aus dem sozialen Umfeld so oft es geht angenommen werden: So kann man als Paar auch wieder gemeinsame Zeit beim Lieblingsitaliener verbringen während die Großeltern ein paar Stunden auf das Enkelkind aufpassen.
Denn es werden noch weitere Phasen in der Entwicklung unserer Kinder kommen, die wieder unsere Selbstbestimmung einschränken, wie z.B. die "Trotzphase" oder die Vorschulzeit mit der "Wackelzahnpubertät" oder die Geburt eines weiteren Kindes. Aber zu diesen Entwicklungsphasen komme ich vielleicht bald in einem meiner weiteren Blogartikeln.
Comentários